Der Pferdepuff oder Wie meine Mutter die rosarote Schallmauer durchbrach 2011
Weihnachten durchbrach die Großmutter die bürgerlich-feministisch trotz gewissenhaft belesener post-gender Literatur errichtete rosarote Schallmauer und machte sie als solche erkennbar, als sie der kleinen Enkeltochter unerwartet ein heißbegehrtes Phillypferdschlösschen schenkte, in dem ein winziges geschminktes und fesch frisiertes rosa Pferdchen kokett und rotbeleuchtet den Betrachtenden den drallen Hintern entgegen dreht. Die kleine wilde Tochter, die sich nix sagen lässt und schon jetzt in jedem Zusammenhang immer auch auf die weibliche Form besteht, schmiss daraufhin alle sorgfältig ausgesuchten teuren und pädagogisch wertvollen Geschenke beiseite und quietschte ohrenbetäubend: „Oh nein, oh ja, ich freue mich, was habe ich für ein GLÜCK gehabt, das muss ich sofort der Leni sagen …“
Joining the rest of the world in becoming a goddamn loser woman subsuming her desires to those of men...
Or:
Saved from boring and earnest puritan intellectual correctness by brash and trashy lack of taste?
1) WIEDERANEIGNUNGSVERSUCHE
Serres: „Aus einem männlichen Körper stammend, bezeichnen und begründen der Urin oder das Sperma die individuellen und privaten Zugehörigkeiten: auf einer Fläche, die auf diese Weise eingezäunt wird, oder auf einer oder mehreren willigen und unterworfenen Weibchen.“[1]
=> Heteronormativitätsparaphrasenexperiment:
„Aus einem weiblichen Körper stammend bezeichnen und begründen der Urin oder die Milch die individuellen Zugehörigkeiten: auf einer Fläche, die auf diese Weise eingezäunt wird, oder auf einem oder mehreren willigen und unterworfenen Männchen.“
An anderer Stelle sagt der Philosoph Michel Serres über weibliche Körperlichkeit:
„Die Frauen müssen sich die Organe ihres eigenen Körpers wiederaneignen, was schwieriger ist, als man sich vorstellen kann.“[2]
Wir schlafen mit unseren Feinden und gebären unsere Mörder. (Ottavia, aus: Die Krönung der Poppea, Monteverdi, Ewerk in Weimar, 2011)
Matronenhaft füllig in Schwarz gekleidet, strickt Tugend, abgehoben und unablässig, einen langweiligen und ordentlichen Regenbogenschal der politischen Korrektheit. Zu viele Farben in gleichförmigen Kasten hintereinander gestrickt, um schön zu sein. Ihre schwarze Kleidung absorbiert alles andere. Ihr Gegenpart, die unordentlich feminin glitzernde Schicksalsfigur, schillert verheißungsvoll, während sie an ihrem reflektierenden Glamour-Computer arbeitet. Wunderschön beleuchtete trashige Kostüme aus offenbar billigem Fummel, der Stil kann als „camp“[3] bezeichnet werden. Die Figuren der barocken Oper, früher von Castrati gesungen, wurden in der Weimarer Aufführung in Weimar fast ausschließlich von Frauen gesungen. Nur die Figuren des stoischen Philosophen Seneca und die Amme der Kaiserin Octavia werden von Männern gesungen. Sexy Poppea versucht aus dem vorgezeichneten und trübsinnigen Korsett der tugendhaften weiblichen Unterwerfungsoption zu entkommen, indem sie – unsolidarisch gegenüber seiner Frau und Kaiserin Ottavia – sich auf „unmoralische“ Weise Nero, einem, seine Begierde voll auslebenden, dysfunktionalen Machtinhaber anbiedert. Heroisch begehrt sie gegen die Selbstunterwerfung unter externe Ideale der Tugend auf und scheint kurzfristig der seit Sophocles’ Antigone vorgezeichneten tragischen Zerstörung, die ein solches „chaotisches“, sich der patriarchalischen Ordnung wiedersetzendes Verhalten in dem Stück nach sich zieht, zu entkommen. Ihr gefährliches Unterfangen erscheint in diesem Zusammenhang heroisch, da sie fast auf diese Weise eine eigene Subjektivität in der dysfunktional männlich dominierten Welt (Nero erhebt Anspruch auf alle Frauen, lebt seine maßlose Begierde voll aus) zu erlangen scheint. Ihr ist bewusst, dass ihr Versuch, der Attraktion der Hauptfigur des Stückes, Nero entgegenzukommen, das Leben seiner ersten Frau Ottavia gefährdet. Sie geht davon aus, dass – Nero spiegelnd – sie über den Dingen steht, dass ihr, weil sie schlau und mutig genug ist, sich gegen die erzwungene Tugend zu wehren, ihrem Schicksal als subalterne weibliche Figur mit begrenzten „Aufstiegsmöglichkeiten“ zu entgehen. Am Ende der Aufführung erfährt das Weimarer Publikum, dass auch sie, im sechsten Monat schwanger, dem übermächtigen Soziopathen Nero zum Opfer fällt und von ihm totgetreten wird.
Kopfkino oder: Thinking of you when in the final throes – this is when my buzzer goes – (Amy Winehouse: You Know I’m No Good)
Im Stück bleibt die einzige Möglichkeit, sich dem dysfunktionalen System zu entziehen, die Imagination, das Phantasieren über Intimität mit dem erwünschten Partner: Zum Überleben ist es notwendig, die Ordnung nach außen zu wahren, während mehr oder weniger versteckt über „Andere“ phantasiert wird: Der von Poppea Verlassene heiratet die ihm Zugewiesene, träumt aber beim Sex mit ihr von der anderen:
Ottone (Margarita Gritskova) trägt umflossen von dunkel-sonorer Stimmfärbung weiter „die eine auf den Lippen, die andere im Herzen“.[4]
Im Zuge der Diskussionen des letzten Jahres über mehrere europäische Machtfiguren, die beschuldigt wurden, sich eine Rechtsfreiheit herauszunehmen, und zum Beispiel eine Hotel-Reinigungskraft und einmal eine Mitarbeiterin mindestens sexuell zu belästigen oder zu vergewaltigen, scheint die Inszenierung – passend für das Weimarer Publikum? – traditionelle Resignation zu propagieren, da es im Stück vor allem für die weiblichen Figuren sinnlos erscheint, sich gegen den dysfunktionalen Despotismus, von Nero verkörpert, zu wehren. Öffentliche Empörung oder auch nur offene Diskussion bleibt in dieser Weimarer Inszenierung – ebenso bezeichnend – abgesehen vom stoischen Lamentieren des Seneca – vollkommen aus.
Einen alternativer Handlungsspielraum scheint auf den ersten Blick die Figur der Lucretia zu bieten, auf die der Philosoph Peter Sloterdijk im 2011 im Spiegel und im Kunstforum erschienen Text „Der verletzte Stolz“[5] zurückgreift, um die mythologische Verankerung des europäischen Demokratiebegriffs bloßzulegen. Die Geschichte beschreibt die in der Erzählung gerechtfertigte Entmachtung einer externen, etruskischen Übermacht durch die empörten Bürger in der mythischen Begründung der römischen (nationalen) Republik. Die weibliche Figur führt auf entscheidende Weise den Machtwechsel bei – sie verkörpert jedoch typischerweise an keiner Stelle aktive, öffentliche Macht.
Sloterdijk beschreibt, wie die Überheblichkeit der Figur des Tarquinius abgestraft wird (getötet wird sie progressiverweise nicht): Die Menge empört sich, emotional dem Bürger der Französischen Revolution – und dem zeitgenössischen Wutbürger – nahe, und schmeißt ihn raus. Unerwähnt bleibt in der Erzählung, dass der darin verborgene römisch-republikanische Nationalismus im Abgrenzen gegenüber dem „fremden“ etruskischen Machtinhaber – und dessen Volk des „Anderen“ entsteht. Der ehemalige Machtinhaber wird samt dessen Volk auf Nimmerwiedersehen rausgeworfen. Der Angriff auf die „eigene“ Frau, die Missachtung der Schwelle zum abgegrenzten „tugendhaft-reinen“ privaten Raum, durch die Frau verkörpert, wird in der Staatsumbildung heteronormativ herangezogen, um das zu rechtfertigen und zu naturalisieren[6].
Dies ist eine aus europäischen nationalistischen Strömungen bekannte Strategie: Silke Wenk beschreibt die Konstruktion des bedrohlichen „Fremden“ in ihrer Analyse von Karikaturen aus den 1920er und 1930er-Jahren in Deutschland. Zugleich wird das Private als vom in der Öffentlichkeit verkehrenden „Mann des Hauses“ garantiert sichtbar, in welches unrechtmäßig eingedrungen wird. Das Private ist dabei weiblich-tugendhaft, die Grenze ist markiert durch den im öffentlichen Raum agierenden Pater Familias, der diese Grenze garantiert und schützt. Die weibliche Figur ist in diesem Mythos solidarisch mit diesem nach außen verteidigenden, ihr kulturell zugehörigen Mann – die Grenze gehört auch ihr, sie ist einverstanden damit, ihm treu. Die Grenze wird vom sich über das Gesetz erhebenden Mann durchbrochen. Serres beschreibt in seinem stark aus einer heterosexuellen männlichen Körperlichkeit[7] heraus geschriebenen Text „Das eigentliche Übel“, wie Territorialität über Grenzziehungen vor allem durch das, je nachdem, weiche oder harte Markieren zum Beispiel mit Exkrementen und Sperma (hart) oder Geräusche (weich, da temporär) – ausgelebt wird[8].
Wo sich der öffentliche, die Grenze garantierende Mann herauskristallisiert, erinnert es daran, dass in Deutschland zur Nazi-Zeit auch diese Figur angegriffen wurde. Die Figur des bürgerlichen „public man“, des die Grenze zum Privaten garantierenden europäischen Pater Familias wurde entmachtet, damit Frauen „dem Führer Kinder gebären“,[9] indem alle vormals privaten Räume totalitär durchdrungen wurden. Dadurch, dass Adolf Hitler zum „Vater aller Kinder“ stilisiert wurde, wurde der Hausvater demontiert, der individuelle bürgerliche Hausgrenzschützer, Patriarch – „public man backed by virtuous woman“ (Sennet) – ideologisch aus dem Weg geräumt. Über diese Kränkung der patriarchalischen Ehre, diese vermutlich als traumatisch erlebte Entgrenzung über mit den Bürgerinnen komplizit in Anspruch genommene weibliche Körperlichkeit scheinen „bürgerliche Deutsche“ nie hinweggekommen zu sein – vielleicht liegt hier die Erklärung der Resistenz entgegen alle modernen europäischen Bestrebungen, das konservative traditionelle bundesrepublikanische deutsche Patriarchat aufzuweichen, den dazugehörigen Mutterkomplex[10] zu begraben, oder auch nur angesichts der Wiedervereinigung offen und (selbst-)kritisch zu diskutieren. Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern setzt sich das traditionelle bundesrepublikanische Mutterbild auch in der ehemaligen DDR, wenn auch zögerlich, bis heute zunehmend politisch durch[11]. Im von Sloterdijk beschriebenen Mythos wischt der politisch übermächtige Eindringling dem tugendhaften Untertan in erster Linie aus Neid einen aus – er ist in dieser Erzählung vor allem sauer, dass sein Untergebener eine offenbar allgemein begehrenswerte Frau hat. Es geht ihm in der Erzählung nicht um diese spezielle Frau sondern um die Frau in Relation zu diesem Mann: Es werden Rivalitäten die über den Körper einer der ideellen Übermacht des einen, der Körper der opferbereiten Frau, ausgetragen. Die Geschichte lässt vermuten, sie wäre vermutlich unvergewaltigt – körperlich rein – geblieben, hätte sie sich entschieden, sich zu wehren und beim Angriff getötet zu werden. Dadurch wäre ihre Reputation zwar ruiniert, und der ihr zugehörige Patriarch „entehrt“, geschwächt, sie aber war „reine Märtyrerin“ geblieben – woraufhin ihr vermutlich in Anlehnung an christlicher Mythologie irgendeine fantastische Entschädigung im Jenseits gewunken hätte. Ein beschädigter weiblicher Ruf wiegt in der Geburt der patriarchalisch konstituierten nationalen Republik – für diese weibliche Figur – schwerer als das körperlich Erlebte und der Tod.
„Virtuous woman“ Lucretia wendet sich an die Öffentlichkeit, die sich mit ihrem Anliegen solidarisiert. Um die Ehre ihres Mannes wiederherzustellen und ihre ideelle Tugendhaftigkeit unter Beweis zu stellen, muss sie sich selbst opfern: Sie begeht Selbstmord. Die Empörung über dieses gespürte Unrecht, dessen Struktur chaotisch (Serres) ist – die Vergewaltigung kann nicht abschließend bewiesen werden, denn: „er nötigt sie durch eine Erpressung, in ihre Vergewaltigung einzuwillingen“ – führt zur Entstehung einer Republik. Ab jetzt steht Recht und Unrecht nicht mehr per despotisches Dekret fest, sondern müssen durchdiskutiert werden. Die Republik ist in dieser Erzählung auf die gedankliche Zulassung der möglichen weiblichen Subjektivität – wollte sie nicht am Ende doch? Oder nicht? begründet. Es geht letztendlich um ihr Wollen, um ihr Aufbegehren gegen die erzwungene Einwilligung, die Macht/Genialität auf die sich rächenden Verfüger über ihren Körper überträgt.
3) HARD TO DIE, Selda Asal, 2008, Videoinstallation, arttransponder, Berlin
Das Kratzen von Stiften auf Papier ist zu hören, es wird Türkisch gesprochen, die Untertitel beschreiben, worum es sich handelt: Die türkische Künstlerin und Psychologin Selda Asal zeigt in der Arbeit „Hard to Die“ 2008 im arttransponder, Berlin, anonymisierte Bewohnerinnen türkischer Frauenhäuser. In zwei Filmen, die parallel projiziert werden, zeichnen Frauen, die ihre Identität aufgaben, um in Frauenhäusern zu überleben. Sie zeichnen und schreiben das, was ihnen widerfahren ist: „Er hat mich geschlagen, ich habe eine Beziehung gehabt, er brachte mir einen Strick, damit ich mich selbst aufhängen konnte, ich habe meine Kinder verlassen, ich konnte mich nicht verabschieden, um mich selbst zu retten, während sie schliefen …“[12] usw.
Die Frauen scheinen durch das Zeichnen an Selbstbewusstsein und Individualität zu gewinnen, die Stimmen werden fester, die Zeichnungen klarer. Die Künstlerin Selda Asal beschreibt, wie das Zeichnen den Frauen zu ermöglichen scheint, über ihre Erfahrungen zu reden. Es sind, sagt sie, Überlebende, die sich auf Kosten ihrer etablierten Identität aus dem sie körperlich zerstörenden System gerettet haben. Strengere Vorschriften ahnden seit einigen Jahren Morde, die zur Wiederherstellung der Familienehre von Familienmitgliedern begangen werden, verstärkt. Familienangehörige für die Wiederherstellung der Familienehre an das Justizsystem zu verlieren, erscheint nicht mehr von Vorteil. Stattdessen habe sich eine Praxis des sogenannten Ehrensuizids eingebürgert.[13] Vereinzelt wird Frauen, die außerehelichen Geschlechtsverkehr haben, in einigen Gegenden nahegelegt sich umzubringen, häufig werden sie in der Selbstzerstörung unterstützt. Es wird in diesen Familien von den Frauen gefordert, Selbstmord zur Wiederherstellung der Familienehre zu begehen: die Frau soll sich für die Familie opfern, ein Muster das auch woanders im übertragenen Sinne erkennbar ist.
In der Gesprächsrunde mit der Deutschen türkischstämmigen Seyran Ates, Selda Asal, und Stephane Bauer ist die Diskussion intensiv – dem Projektraumleitung – so auch mir – wird vorgeworfen, dieses mit vielen Missverständnissen behaftete Klischee des rückständigen orientalischen Patriarchats für eigene Zwecke missbrauchen zu wollen, das passe zu gut zur Tendenz der deutschen Mainstream-Kultur, zu der auch die genannte Projektraumleitung gehört, Rückständigkeit vor allem über einseitige Berichterstattung über traditionell türkische Bräuche zu konstruieren. Aber die Künstlerin Selda Asal ist in diesem Kontext im Gegensatz zu ihren filmischen Subjekten eine privilegierte und „modern“ lebende türkische Frau. Sie macht auf Frauen, deren Schicksal sie nicht loslässt, aufmerksam. (Sie grenzt sich zugleich davon ab, und lebt davon als Künstlerin, dieses sichtbar werden zu lassen - das verstehe ich wohl auch aus meiner eigenen langjährigen Auseinandersetzung mit partizipativer künstlerischer Praxis, siehe arttransponder.net.) Der Kritik zuzustimmen entspräche hier der Subalternierung ihrer eigenen Subjektivität unter der angeblich moderneren deutsch-türkischen. (das ist ein Spiel dass ich "My Patriarchy is better than Yours" nenne - das was eigentlich hinter dem vielen bekannten "My Feminism is better that Yours" oder auch "Ich bin emanzipierter als Du" steckt.) Ich entnehme dem Gespräch, dass es nicht darum gehen kann, die emanzipatorische Überlegenheit der einen Nation gegenüber der anderen herauszustellen, sondern um die Möglichkeit des mentalen und emotionalen Überlebens in kritischen Situationen durch das Markieren, durch das Bewusstsein und das Sehen/Erkennen des selbstgeschaffenen Bildes als Überlebensstrategie und um das exemplarische Aufbegehren gegen die Vernichtung dieser weiblichen Individualitäten (Subjektivitäten? Singularitäten?).
Der Selbstmord der mythischen Lukretia erhält in diesem Zusammenhang eine weitere kontextuelle Bedeutung und schafft dadurch einen interpretativen Rahmen. Leidet die Vergewaltigte nicht glaubwürdig und dauerhaft, schaltet sie sich nicht angemessen, bis hin zum Selbstmord, aus, wird in dieser Erzählung die Ehre der possessiven gesetzestreuen Männlichkeit öffentlich verletzt. Die Vorstellung, ohne Leidende zu sein, Recht auf die Verfügung über den eigenen Körper einfordern zu können, taucht in diesem erzählten Zusammenhang noch nicht auf. Es geht in der von Sloterdijk beschriebenen mythischen Geburt der republikanischen Nation allerdings nicht darum, dass Lukretia unrecht angetan wurde, sondern darum, das die Frau dieses Mannes gezwungen wurde, „in ihre Vergewaltigung einzuwilligen“. Die republikanische Nation entsteht durch eine empörte Öffentlichkeit, die sich in einen Streit von Rivalen, die sich über den (un-)rechtmäßigen Zugang zum weiblichen Körper definieren, einmischt: Die demokratische patriarchale Öffentlichkeit schützt den rechtmäßigen Zugang zum weiblichen Körper vor Übergriffen durch Überväter beziehungsweise ahndet ein Vergehen dagegen. Darin ist Lukretia Komplizin.
Sollte ein erzwungener oder auf unrechtmäßige Weise erschwindelter Geschlechtsakt die mythologische Basis der Demokratie bilden, wird deutlich, wieso „das Weibliche“ im Zusammenhang mit Körperlichkeit „Chaos“[14](Serres) symbolisiert: Es kann in der öffentlich gebräuchlichen Gesetzesgrundlage in Deutschland bislang nicht abschließend feststehen, ob eine Vergewaltigung vorliegt, da es sich letztendlich um die übergeschlechtliche oder Postgender-Subjektivität der Vergewaltigten dreht – die im gebräuchlichen System sich hier nicht essenzialisieren lässt.
Die Soziologin Laura Stoler beschreibt die Bezugnahme Foucaults auf die in kürzester Zeit von Diderot geschriebene Farce „Les Bijoux Indiscrete“, in der die Geschlechtsteile von Frauen zum Reden gebracht werden können. Was Foucault aber nicht bearbeitet habe, sei die Notwendigkeit der Veräußerung des despotischen Herrschers dieses Romans in „das Fremde“ im Rahmen der sich etablierenden kolonialen Logik: Es sei kein Zufall, dass Rassismen mit der Auflösung des Absolutismus und der Kolonialisierung zusammenfielen.
Sie sagt:
Racisms have been part of the consolidation of bourgeois projects, the forming of national states and the uncertain cultivation of identities of what Stuart Hall has called these “structures of dominance”.
und
For Foucualt “Les Bijoux Indiscrets” served one purpose: it captured the absurdity of what is emblematic in Occidental society today, “our society” that wears among its many emblems that of the talking sex.
Sie erweitert diesen Gedanken:
The truth is spoken by that loquacious jewel of sex, but it is not any sex that speaks – only a gendered exoticized version.[15]
Diderot bezieht sich auf den Mythos der Lucretia:
„Kersael, ein junger Mann von Stande, schmachtete seit einen halben Jahr in einem Kerker, um dieser Strafe unterworfen zu werden. Fatme, hübsche junge Frau, war seine Lukretia und seine Anklägerin. Alle wußten, daß sie einst sehr gut miteinander gestanden hatten, sogar Fatmes nachsichtiger Gehmahl hatte nichts dagegen gehabt. Und so hätte auch die Öffentlichkeit sich um diese Angelegenheit nicht zu kümmern brauchen.“
Mehrere Jahrhunderte bevor der mutmaßlichen von Louis Strauss-Kahn vergewaltigten Hotelangestellten 2011 Glaubwürdigkeit abgesprochen wird, steht in höchst aktueller Argumentation bei Diderot:
Die Gesetze befahlen, Fatme’s Kleinod müsste besichtigt werden. Es geschah. Die Aussage der Hebamme belastete den Angeklagten erheblich. Sie hatten genaue Vorschrift, wie eine vergewaltigte Frau aussehen müsse, und alle erforderlichen Anzeichen zeugten nun gegen Kersael. Die Richter verhörten ihn; er wurde Fatme gegenüber gestellt; und Zeugen wurden vernommen. Vergeblich beteuerte er seine Unschuld, leugnete die Tat und versuchte durch seinen zweijährigen Verkehr mit der Klägerin nachzuweisen, das sie keine Frau sei, der man Gewalt anzutun brauche. [16]
Geht Lukretia in der traditionellen Erzählung des Mythos, auf die sich Sloterdijk in seinem 2009 erschienenen Text bezieht, an die Öffentlichkeit, scheint der einzige Weg sich Glaubwürdigkeit zu beschaffen, sich selbst umzubringen, oder aber sich in der Geburt der nationalen Republik, die zugleich die Geburt der tugendhaften Frau ist („Public Man backed by virtuous woman“) ihre eigenständige Sexualität zu verleugnen. Dass Diderot Lucretia von ihrem tugendhaften Sockel herunterholt und ihr eine ebenso verletzte Eitelkeit als Auslöser einer Kette von fatalen Ereignissen zuschreibt, wie die des traditionellen Frevlers Tarquinius, beziehungsweise ihr den Chastity Belt anzulegen, erscheint erstaunlich zeitgenössisch in der Verkomplizierung der Beziehungen, und passt zur These des erst über die Französische Revolution entstehenden und bis heute in Deutschland prägenden Figur des heteronormativen (weißen) „Public Man backed by Virtuous Woman“ und der dazugehörigen Konstruktion dessen Bedrohung durch zunehmend rassifizierte, verfremdeten und unrechtmäßigen Eindringlingen.[17] Ob es möglich ist, die anvisierte bedingungslos singuläre (de-essenzialisierte? ent-körperlichte?) Subjektivität OHNE eine schrittweise Dekonstruktion dieser traditionellen sexistischen und rassistischen Figurationen/Strukturen erkennbar werden zu lassen, bleibt aus meiner Sicht unwahrscheinlich.[18] Demzufolge halte ich es für höchst fragwürdig von jede/r_m der in der westlichen Kultur sich bewegt und agiert von sich selbst und seiner Kultur anzunehmen man habe Rassismus und Sexismus bereits überwunden, ohne die Arbeit die das voraussetzt, getan zu haben.
[1] Michel Serres, Das eigentliche Übel. Berlin, 2010
[2] S. 38. „Women may escape the permanent claims of property under Serres’s new frame, but the notion that women lacked possession of the organs of their own bodies is misguided. To then suggest a “tenancy” where men, and supposedly female lovers as well, would take residence in women for a limited period of time — as serial adultery is “a liberation from appropriation” — is condescending to women and men alike. Should these “tenants” pay rent? If so, this liberated form of love-making seems indistinguishable from prostitution, and Serres’s route out of sexual property ends up resembling one of the most ritualized exchanges of women between men.“ SACRED DIRT; Susan Stewart On Michel Serres ecological philosophy. Sep. 22. 2011. LA Review of books.
[7] Ganz im Gegensatz zu Goethe denkt er sich an keiner Stelle in andere Sexualitäten hinein: Es scheint ihm keinen Spaß zu machen. Siehe dagegen Goethe in: Die klassische Sau, 1991.
[8] Serres verwendet die Begriffe hart und weich, um zwischen temporären und permanenten Markierungsformen zu unterscheiden.
[9] Siehe: Conceptions of Postwar German Masculinities, Roy Gerome, 2001.
[10] Barbara Vinken, Die Deutsche Mutter, der lange Schatten eines Mythos. Frankfurt, 2007.
[11] Zu erkennen an den zunehmend eingeschränkten Kinderbetreuungseinrichtungen nach der Wende, der Betreuungsgelddebatte, der Übernahme der BRD-Regelung bei Schwangerschaftsabbrüchen etc.
[13] How to avoid Honor Killing in Turkey? Suicide. Dan Bilefsky, July 16, 2006. New York Times.
[14] „However, this remarkable discovery of nonlienar thinking encoded in a nineteenth-century story is built in the absolute need to preserve gender difference, or more generally on the unalterable otherness that represents all the unpredictable and chaotic aspects of life.“ In: Mapping Michel Serres, p. 218. Noan Abbas, Michigan 2005.
[15] Laura Stoler. Race and the Education of Desire. Foucault’s History of Sexuality and the Colonial Order of Things. New York, 1995.
[16] Denis Diderot, Die indiskreten Kleinode. S. 142.
[18] Ich beziehe mich auf den Text Practicing Research/Singularizing Knowledge: „Viewing notions of singularity ‚the new relational mode of the subject’ and of the process of singularisation as modes of coming together and producing relations and agendas that do not emanate from shared identities, shared ideologies, shared belief systems.... etc.“ Irit Rogoff, London 2010.